Mehrsprachigkeit in der Fachlehre als Ressource nutzen
Thesen
- Die Universität ist ein vielsprachiger Raum.
- Jede zusätzliche Sprache bringt zusätzliche Möglichkeiten, Wissen zu erwerben und zu produzieren; dies kann sowohl individuell als auch in der Gruppe genutzt werden.
- Studierende können alle Sprachen, die sie gelernt haben, als Ressource für ihr fachliches Lernen nutzen.
- Dies gilt nicht nur für die textintensiven Fächer, sondern auch für den MINT-Bereich.
- In der Lehre können schon kleine Veränderungen Studierende ermutigen, Mehrsprachigkeit aktiv zu nutzen.
- Die Arbeitssprache bei einzelnen Aktivitäten freizustellen führt zu mehr Teilhabe aller Studierenden.
- Um Mehrsprachigkeit zu fördern und zu ermöglichen, ist es nicht notwendig, die Lehrsprache zu verändern.
Internationalisierung – lebensweltliche Mehrsprachigkeit – akademische Mehrsprachigkeit
Universitäten sind traditionell und aktuell vielsprachige Räume. Zum einen ist dies eine Folge der institutionell auch von der RUB angestrebten Internationalisierung: Studierende und Forschende aus anderen Ländern kommen nach Bochum, Lehre und Forschung ist auf den internationalen Kontext ausgerichtet, ganze Studiengänge werden auf Englisch angeboten. Internationalisierung bedeutet aus sprachlicher Perspektive meistens Englisch als lingua franca der Wissenschaften.
Zum anderen leben viele Studierende und Lehrende durch die Internationalisierung von Lebensläufen in mehr als einer Sprache: Sie kommunizieren täglich in unterschiedlichen Sprachen mit Verwandten, Freund/innen und Kolleg/innen, sie haben möglicherweise in mehreren Ländern Schulen und Universitäten besucht, sie nutzen Informationsquellen in unterschiedlichen Sprachen – ihre Lebenswelt ist mehrsprachig (lebensweltliche Mehrsprachigkeit).
Mehrsprachigkeit an der Universität bedeutet jedoch noch weit mehr: In vielen Fächern ist eine akademische Mehrsprachigkeit so selbstverständlich, dass sie gar nicht als solche wahrgenommen wird: Forschungsliteratur wird in unterschiedlichen Sprachen gelesen, Primär- oder Quellentexte liegen in unterschiedlichen Sprachen vor und die wissenschaftliche Kommunikation findet nur selten ausschließlich in einer Sprache statt. Dies gilt ganz besonders für die philologischen Fächer, die sich mit unterschiedlichen Sprachen und Kulturen befassen, aber auch für große Teile der Kultur- und Sozialwissenschaften.
Für Mehrsprachigkeit in Lehr-/Lernsituationen spielen also ganz unterschiedliche Faktoren zusammen, die jedoch selten gemeinsam betrachtet und häufig unterschiedlich bewertet werden: als Ziel, als Problem oder als Ideal. Doch obwohl die Ursachen für Mehrsprachigkeit im Lehrgeschehen unterschiedlich sind, führen sie zu denselben Situationen für das Lernen, Lehren und Kommunizieren. Ich möchte in diesem Beitrag Vorschläge machen, wie Sie bei der Arbeit mit sprachlich heterogenen Gruppen alle vorhandenen Sprachen als Ressource für das fachliche Lernen nutzen können, statt die Heterogenität als Problem und Unsicherheiten einzelner Studierender in der Lehrsprache als Defizit zu betrachten.
Mehrsprachigkeit als Ressource für Lehren und Lernen
Woher auch immer die Sprachen stammen, die Studierende mit an die Universität bringen – ob es sich also um lebensweltliche Mehrsprachigkeit handelt, um in der Schule erworbene Fremdsprachen oder um die Herkunftssprachen internationaler Studierender – sie können an der Universität systematisch zur Ausbildung einer akademischen Mehrsprachigkeit genutzt werden.
Wenn Sie als Fachlehrende/r die Förderung von Mehrsprachigkeit in Ihre Lehre einbeziehen, können Sie gleichzeitig sowohl Studierende unterstützen, die sich in der Lehrsprache noch nicht sicher fühlen, als auch Internationalisierung@home betreiben, also in Ihrer Lehre Erfahrungen interkultureller Interaktion ohne Auslandsaufenthalt ermöglichen. Sie bereiten die ganze Seminargruppe auf die Kommunikation in der internationalisierten, mehrsprachigen Wissensgesellschaft vor und ermöglichen ihr, ihre Kompetenzen im Umgang mit verschiedenen Sprachen zur Wissensaneignung und Wissensproduktion auszubauen. Schon kleine Interventionen, die das Seminargeschehen nicht grundlegend verändern, können hier einen entscheidenden Unterschied machen.
Mehrsprachigkeit in der Lehre ganz unabhängig vom Fach und Lehrgegenstand einzusetzen, mag auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen, wenn Sie den Ansatz gewohnt sind, sich immer nur auf eine Sprache zu konzentrieren, gerade auch um fremdsprachliche Kompetenzen aufzubauen. Und es kann anfangs Unsicherheiten hervorrufen, zur Verwendung von Sprachen einzuladen, die Sie selbst nicht verstehen. Ich hoffe, die nachfolgenden Überlegungen können Sie überzeugen und ermutigen, hier in Ihrer Lehre kleine und große Experimente zu wagen. Viele der Gedanken und Vorschläge in diesem Artikel stammen aus meiner eigenen Lehr- und Beratungspraxis und aus meiner Suche nach Konzepten, die den Umgang mehrsprachig lebender Menschen mit verschiedenen Sprachen beim Lernen, Denken und Schreiben erklären können.
- Im Studium ist in allen Fächern für das Lernen Sprache ganz grundlegend notwendig und ein tiefes Verstehen komplexer Zusammenhänge ist ohne zu sprechen, zu lesen und zu schreiben kaum möglich (zu den Fähigkeiten, die Schreiben fördert, vgl. den Überblick bei Lahm 2016: 31ff). Wenn sich Studierende in der Lehrsprache unsicher fühlen, besteht die Gefahr, dass sie auch in ihrem Lernen eingeschränkt sind. Es ist deshalb wichtig, sie zu ermutigen, neben der Lehrsprache alle Sprachen zu nutzen, in denen sie sich frei ausdrücken und ungehemmt nachdenken können. So können sie neue Informationen tiefer durchdringen und besser mit ihrem Vorwissen verknüpfen.
- Bestimmte Wissens- und Erfahrungsbereiche können mit unterschiedlichen Sprachen verbunden sein. Wenn z. B. der B.A.-Studiengang auf Deutsch war, die Lehrsprache im M.A.-Studiengang aber Englisch ist (wie dies an der RUB z. B. für das Fach Chemie gilt), kann im Übergang von einer Studienphase zur anderen der Zugriff auf das bereits erworbene Wissen durch den Sprachwechsel erschwert werden. Ähnliches gilt für Studierenden, die z. B. ihren B.A.-Abschluss in einem anderen Land / einer anderen Sprache erworben haben und ihr M.A.-Studium an der RUB fortsetzen. Wenn die Studierenden dazu ermutigt werden, alle für sie relevanten Sprachen für ihre fachliche Auseinandersetzung zu nutzen, ermöglicht ihnen das, mehr Wissen einzubeziehen und das neu zu Erlernende mit bereits bestehenden Wissensstrukturen zu verbinden (vgl. z .B. Knorr/Andresen/Algös-Bakan/Tilmans 2015 zu Beispielen aus der Schreibberatung).
- Mehrsprachig lebende Menschen sind es gewohnt, je nach Bedarf und Kommunikationssituation zwischen Sprachen zu wechseln, und entwickeln gerade dadurch ihr volles kognitives Potential (vgl. z. B. García 2009). Das sollte ihnen auch in Lehrveranstaltungen möglich sein, damit sie in ihrer fachlichen Entwicklung nicht eingeschränkt werden. Studierende, die sich als einsprachig wahrnehmen, können zudem durch das Beispiel mehrsprachigen Verhaltens ermutigt werden, auch Sprachen zu nutzen, in denen sie sich (noch) unsicher fühlen, um dadurch z. B. mehr Informationen zu erlangen und gleichzeitig ihre sprachlichen Kompetenzen weiter auszubauen.
- Wenn in einer Seminargruppe Studierende mit unterschiedlichen Sprachen sind, kann dies schließlich genutzt werden, um mehr Material und mehr Wissen in die Veranstaltung zu holen, z. B. indem einzelne oder Kleingruppen Fachtexte oder Quellentexte in diesen Sprachen bearbeiten und die Inhalte den anderen zur Verfügung stellen. So wird die Lehre inhaltlich bereichert und der Nutzen von akademischer Mehrsprachigkeit für alle unmittelbar greifbar. Jede Sprache, die ein Mensch spricht und liest, eröffnet Möglichkeiten, um Informationen zu erlangen und neues Wissen zu produzieren – dies gilt es, produktiv in der Lehre zu nutzen.
Durch die Einbeziehung von Mehrsprachigkeit in die Lehre kann also die gleiche Teilhabe für alle erreicht werden, unabhängig davon, ob die Lehrsprache ihre dominierende Sprache ist und wie sicher sie sich in ihr bewegen.
Anregungen für die Lehre
Auf die Mehrsprachigkeit einer Gruppe einzugehen, braucht nicht zu bedeuten, eine Veranstaltung mehrsprachig zu gestalten, die Lehrsprache zu verändern oder von der Forderung abzurücken, dass Prüfungsleistungen in einer bestimmten Sprache erbracht werden müssen. Aber es bedeutet in jedem Fall zu akzeptieren, dass mehrsprachig lebende Menschen sich permanent in unterschiedlichen Sprachen bewegen, sie wechseln und mischen und gerade so ihr volles kognitives Potential entfalten.
Wichtig ist bei allen Maßnahmen, dass Sie sie unabhängig davon einsetzen, ob Sie glauben, dass in Ihrer Gruppe Menschen sind, die eine andere Erstsprache als die Lehrsprache haben. Es geht nicht darum, für eine bestimmte Gruppe „Nachhilfe“ zu leisten und sie damit zu stigmatisieren, sondern die Lehre zum Vorteil aller für mehr Sprachen zu öffnen. Wenn Sie Studierende aufgrund der Hypothesen, die Sie sich wegen ihres Aussehens oder Namens bilden, auf eine Sprache festlegen, schreiben Sie ihnen eine andere Identität zu als dem Rest der Gruppe. Zudem mögen Einzelne ihre eigenen Gründe haben, eine Sprache, die sie gut können, im Universitätskontext erst einmal nicht zu verwenden, z. B wenn sie erlebt haben, dass diese Sprache nur ein geringes Sozialprestige besitzt oder im Bildungskontext nicht erwünscht ist. Überlassen Sie es den Studierenden selbst zu entscheiden, welche Sprachen sie individuell und für die gesamte Gruppe verwenden wollen. Indem Sie immer wieder freistellen, welche Sprachen verwendet werden, tragen Sie zu einer offenen Atmosphäre bei, in der es selbstverständlich werden kann, alle Sprachen im Raum produktiv zu nutzen.
In der folgenden Liste finden Sie Anregungen für Ihre Lehre, die mit niedrigschwelligen, unaufwendigen Interventionen beginnen und mit Thematisierungen von Mehrsprachigkeit enden.
Denktexte in einer frei gewählten Sprache
Fachgruppen: alle
Veranstaltungsform: alle
Voraussetzungen: keine
Aufwand: minimal, 5-10 Minuten zur Durchführung
Effekte: sprachliche Individualisierung, Aktivierung, Intensivierung des Lernens, Vorbereitung mündlicher Interaktion
Studierende profitieren unabhängig von der verwendeten Sprache davon, wenn sie in Lehrveranstaltungen informelle, explorative Minitexte über den Stoff schreiben, sogenannte „Minute-Paper“ oder „Denktexte“ (zu Hintergründen und Formen vgl. z. B. Lahm 2016: 111 ff). Dabei kommt es nicht auf die geschriebenen Texte selbst an, sondern darauf, dass die Studierenden durch das Formulieren in eigenen Worten das Gehörte tiefer verarbeiten, mit ihren eigenen Fragen oder Gedanken verknüpfen und das Schreiben so als Moment der individuellen Auseinandersetzung nutzen. Diese Texte sollten nicht eingesammelt werden, weil sonst ihr informeller und individueller Charakter verloren geht und Studierende nicht die Erfahrung machen, dass das Schreiben für sie ein Denkwerkzeug sein kann.
Denktexte lassen sich z. B. in einer Vorlesung am Ende eines thematischen Abschnitts einsetzen oder in einem Seminar / einer Übung vor einer Diskussion. Die Studierenden können so ihre Gedanken sammeln, Fragen überlegen und sich schreibend auf ihre Redebeiträge vorbereiten. Dies kann besonders zurückhaltenden oder sprachlich unsicheren Studierenden ermöglichen, sich zu beteiligen, und die Qualität einer sich anschließenden Diskussion wesentlich steigern.
Wenn Sie diese Methode einsetzen wollen, können Sie sie routinemäßig mit dem Hinweis verbinden, dass die Studierenden selbst entscheiden können, in welcher Sprache sie schreiben. Studierende können so für die Gedankensammlung eine andere Sprache als die Lehrsprache nutzen, wenn sie z. B. Informationen zu diesem Thema vor allem in einer anderen Sprache rezipiert haben oder in einer anderen Sprache intensiver nachdenken können. Auf diese Weise besteht die Möglichkeit, dass sie mehr Gedanken sammeln, beim Schreiben unterschiedliches Wissen verknüpfen und ihren Redebeitrag inhaltlich besser vorbereiten können.
Explizite Freistellung der Sprache bei Gruppenarbeiten
Fachgruppen: alle
Veranstaltungsform: Seminare, Übungen mit Interaktion zwischen den Studierenden
Voraussetzungen: keine
Aufwand: minimal, kein zusätzlicher Zeitaufwand
Effekte: sprachliche Individualisierung, Aktivierung, Verstärkung des fachlichen und sprachlichen Lernens
Vielleicht kennen Sie aus Ihren Lehrveranstaltungen die Situation, dass bei Kleingruppenarbeiten andere Sprachen als die Lehrsprache verwendet wurden, weil die Kommunikation für die Studierenden so natürlicher war. Zuweilen entsteht eine unklare Situation, wieweit Sprachen zulässig sind, die nicht alle und vielleicht gerade Sie als Lehrende/r nicht verstehen.
Seien Sie hier proaktiv und stellen Sie bei Gruppenarbeiten explizit frei, welche Sprachen verwendet werden, solange sich alle Gruppenmitglieder beteiligen können. So haben die Studierenden die Möglichkeit, sich in der Sprache über die Fachinhalte auszutauschen, in der es ihnen am leichtesten fällt, und sie können sich im Sinne des Peer-Learning gegenseitig bei der Aneignung unterstützen. Sehr häufig wechseln sie gerade in solchen Gesprächen immer wieder zwischen der Gruppen- und der Lehrsprache und sichern so das gemeinsame Verständnis der Inhalte. Wenn Sie die Gruppenarbeiten als Ergebnissicherung z. B. mit einer Posterpräsentation abschließen, unterstützen Sie die Studierenden zudem im Transfer des Besprochenen in die Lehrsprache. Durch diese Praxis kann der produktive Wechsel zwischen Sprachen in Ihrer Veranstaltung zur Selbstverständlichkeit werden, ohne dass die gemeinsame Verständigung über die Lehrinhalte leidet.
Nutzung von Material in unterschiedlichen Sprachen
Fachgruppen: v.a. textbasierte Wissenschaften
Veranstaltungsform: Seminare, Übungen
Voraussetzungen: verschiedene Sprachen in der Gruppe, Material zum Thema in unterschiedlichen Sprachen
Aufwand: Das Konzept der Veranstaltung wird beeinflusst, indem interkulturelle und möglicherweise grundlegend unterschiedliche Perspektiven auf den Gegenstand einbezogen werden.
Effekte: Es wird deutlich, dass jede Sprache zusätzliche Informationen und Positionen zu einem Thema beisteuern kann und dass es notwendig ist, sich mit diesen unterschiedlichen Perspektiven reflektiert und kritisch auseinanderzusetzen.
Mehrsprachigkeit kann auch eingesetzt werden, um unterschiedliche Sprachen für die gemeinsame Erarbeitung von Fachinhalten zu nutzen. Am produktivsten ist dies, wenn Sie an einem Thema arbeiten, das mit unterschiedlichen Sprachen und Kulturen verbunden ist oder zu dem es, wenn vielleicht auch keine zugänglichen wissenschaftlichen Texte, so doch zumindest z. B. eine journalistische Berichterstattung in verschiedenen Sprachen gibt. (Ein Ausgangspunkt kann hierbei z. B. Wikipedia sein, wenn es zu wichtigen Stichworten Einträge in unterschiedlichen Sprachen gibt.) Die Mehrsprachigkeit hat dann einen Gegenstandsbezug und ist somit unmittelbar produktiv für die Fachlehre.
Dieses Vorgehen setzt voraus, dass die Studierenden bereit (und in der Lage) sind, sich mit Texten in unterschiedlichen Sprachen auseinanderzusetzen. Und es setzt voraus, dass Sie als Lehrende/r die Darstellung eines Themengebiets in unterschiedlichen Sprachen/Kulturen im Seminar thematisieren. Dafür ist es nicht notwendig, dass Sie alle Sprachen selbst verstehen, in denen Materialien gelesen und vorgestellt werden. Wichtig ist dagegen, dass Sie einen Austausch über möglicherweise unterschiedliche Darstellungen, Theoriebildungen, Interpretationen oder methodische Zugänge zu einem Thema so moderieren, dass die Studierenden sie einordnen und Kriterien einer Bewertung nachvollziehen können. Das bedeutet, auch die eigene Haltung zu reflektieren und zu hinterfragen und sich auf andere Traditionen und Sichtweisen einzulassen. Hierdurch können in der Veranstaltung fach- und möglicherweise auch kulturspezifische Werte und Kriterien für wissenschaftliche Beiträge explizit werden.
Wenn Sie z. B. historische Ereignisse behandeln und Studierende Texte auf Türkisch, Englisch, Polnisch, Französisch, Arabisch und Deutsch vorstellen, ist es wahrscheinlich, dass sich das Geschichtsbild in den Texten unterscheidet. Wenn Sie dies in der Veranstaltung thematisieren, hat das zwei entscheidende Vorteile: Es gibt mehr Perspektiven auf das Ereignis, als wenn Sie z. B. nur deutschsprachige Geschichtsschreibung einbeziehen, und hierdurch wird als Prinzip das Fachs deutlich, dass es nicht darum gehen kann, herauszufinden, „wie es wirklich gewesen ist“. Aus einer überfachlichen Perspektive bedeutet dies, dass Studierende lernen, Wissen innerhalb des Kontexts zu betrachten, in dem es entstanden ist, und sich reflektiert und kritisch mit ihm auseinanderzusetzen (Medienkompetenz). Unterschiedliche Auffassungen, die sonst nur unterschwellig im Raum sind, werden zudem explizit und können in die fachliche Auseinandersetzung einbezogen werden.
Definition von Fachbegriffen in unterschiedlichen Sprachen
Fachgruppen: alle
Veranstaltungsform: Seminar, Übung, Tutorien oder Begleitveranstaltungen, in denen intensiv an den Inhalten gearbeitet wird, Kurse zur Fachsprache
Voraussetzungen: Beschäftigung mit Fachbegriffen und ihren Definitionen
Aufwand: Arbeitseinheit zur Definition von Fachbegriffen
Effekte: Intensive Auseinandersetzung mit Fachbegriffen, Unterstützung des fachlichen und sprachlichen Lernprozesses, Einbeziehung von fachlichen Vorstellungen in unterschiedlichen Sprachen/Kulturen, Reflexion des Schreibprozesses
Eine weitere Möglichkeit, Mehrsprachigkeit in der Fachlehre zu nutzen, ist es, Definitionen zu Fachbegriffen in unterschiedlichen Sprachen zu schreiben (vgl. Brinkschulte 2016: 110f). Hierzu wählen die Studierenden Fachbegriffe, die im Zusammenhang mit dem aktuellen Stoff stehen, und schreiben zuerst Definitionen in der Lehrsprache. (Dieser Arbeitsauftrag lässt gut z. B. im Anschluss an die Lektüre eines Texts erteilen.) Danach übersetzen die Studierenden den Fachbegriff in eine Sprache ihrer Wahl und schreiben in dieser Sprache eine zweite Definition. Eine Übertragung von Wissen in ein anderes Sprachsystem zwingt immer dazu, Übersetzungsentscheidungen zu treffen, also aus verschiedenen Lesarten auszuwählen und so einen Begriff noch einmal tiefer zu durchdringen bzw. sich auf eine Lesart festzulegen. Durch diese Prozesse werden häufig sowohl sprachliche als auch inhaltliche Aspekte der Definitionen deutlicher.
Je nach Veranstaltungsschwerpunt kann diese Übung unterschiedlich ausgewertet werden. In einer stärker sprachorientierten Veranstaltung können sich die Studierenden nach der Einzelarbeit in Kleingruppen darüber austauschen, wie sie vorgegangen sind, welche sprachlichen Mittel sie beim Schreiben jeweils eingesetzt haben und was ihnen dabei bewusst geworden ist (so bei Brinkschulte 2016). In einer Fachveranstaltung kann sich die Auswertung zusätzlich auf die Inhalte der Definitionen richten: Welche Aspekte sind durch die Übersetzung deutlicher geworden? Welche Zusammenhänge waren schwierig oder sogar unmöglich zu übersetzen? Wo waren Umschreibungen oder weitere Ausführungen notwendig und warum? In welchen Sprachen gibt es für das Themengebiet andere Begrifflichkeiten oder Terminologien? Wo stellen sich nun weitere inhaltliche Fragen? Die Ergebnisse der Gruppenarbeit werden im Plenum zusammengetragen und davon ausgehend die Bedeutung der Begriffe weiter geklärt.
Sensibilisierung für das Potential von Mehrsprachigkeit
Fachgruppen: alle
Veranstaltungsform: alle, besonders aber Seminare, Übungen mit Interaktion zwischen den Studierenden
Voraussetzungen: verschiedene Sprachen spielen in der Gruppe, für den Stoff oder im Studiengang eine Rolle
Aufwand: Vorbereitung gering, Durchführung 30-40 Minuten
Effekt: Studierende erleben, dass sie in verschiedenen Sprachen auf unterschiedliche Bereiche ihres Wissens und ihrer Erfahrungen zugreifen können.
Studierenden ist nicht immer bewusst, dass sie alle ihnen verfügbaren Sprachen für das Studium produktiv nutzen können – auch wenn diese keine Lehrsprachen sind. Sie unterschätzen dabei, dass sie so hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben, weil sie mit jeder zusätzlichen Sprache im Sinne einer akademischen Mehrsprachigkeit auf mehr Wissen und Erfahrungen zurückgreifen können.
Mit einem kleinen Sprachenexperiment (vgl. Lange 2015) können Sie hier Impulse setzen: Stellen Sie zuerst eine Brainstormingmethode vor, bei der assoziativ Ideen gesammelt werden, z. B. das Clustern (vgl. Rico 2004). Für ein Cluster wird zuerst ein Thema als Stichwort in die Mitte eines leeren Blatts geschrieben. Von diesem Zentrum ausgehend werden Ideen in Ketten von Stichworten notiert. Immer wenn eine Gedankenkette endet, kann vom Zentrum aus eine neue begonnen werden. Dabei werden alle Ideen aufgeschrieben, ohne sie zu bewerten oder zu zensieren. Für ein Cluster reichen ca. 4—5 Minuten aus.
Fordern Sie dann die Studierenden auf, zu einem bestimmten Begriff ein Cluster zu schreiben. Im nächsten Schritt übersetzen die Studierenden den Ausgangbegriff in eine andere Sprache und schreiben ein neues Cluster in dieser Sprache. Sie können dies wiederholen, bis alle verfügbaren Sprachen ausprobiert wurden. Zur Auswertung vergleichen die Studierenden ihre Cluster in den unterschiedlichen Sprachen. Viele von ihnen werden feststellen, dass die Ideen und Assoziationen sich von Sprache zu Sprache unterscheiden und sie also mehr Ideen haben, wenn sie sich nicht auf eine Sprache beschränken. Sie können diesen Effekt verstärken, wenn Sie einen Ausgangsbegriff wählen, mit dem viele Menschen Erfahrungen in unterschiedlichen Sprachen verbinden, wie z. B. Musik, Reise, Schule oder ein entsprechender Begriff aus Ihrem Fachkontext.
Dieses Verfahren lässt sich auch gut einsetzen, wenn im Seminar ein Text in einer anderen Sprache als der Lehrsprache gelesen wurde. Hier könnten Cluster zum Text in beiden Sprachen angefertigt und anschließend diskutiert werden.
Visualisierung der Sprachen in der Seminargruppe
Fachgruppen: alle
Veranstaltungsform: Seminare und Übungen
Voraussetzungen: Sie wollen mit der Mehrsprachigkeit der Gruppe arbeiten.
Aufwand: geringe Vorbereitung, Durchführung ca. 30 Minuten
Effekt: Die Sprachen in einer Gruppe und ihre Verwendung werden für alle sichtbar.
Wenn Sie in einer Gruppe mit unterschiedlichen Sprachen arbeiten wollen, kann es sinnvoll sein, dies zu Beginn der Veranstaltung anzusprechen und sichtbar zu machen, welche Sprachen im Raum vertreten sind. Dabei sollten Sie berücksichtigen, dass unterschiedliche Sprachen unterschiedlich hohe soziale Anerkennung genießen, und darauf achten, dass niemand abgewertet wird. Die Grundvoraussetzung hierfür ist, dass Sie selbst jeder Sprache, die Studierende mitbringen, dieselbe Wertschätzung entgegenbringen und die Studierenden dabei unterstützen zu erkunden, wie sie die Sprache im Rahmen des Studiums einsetzen können.
Eine Möglichkeit ist, die Sprachen nicht individuell zu betrachten, sondern als Potential der Gruppe sichtbar machen. So können Sie Plakate aufhängen, auf denen verschiedene Tätigkeiten stehen, für die Sprachen genutzt werden können, z. B. sprechen, lesen, schreiben, denken (je nach Thema eines Seminars können Sie hier weitere ergänzen: Zeitung lesen, Filme sehen, Fachtexte lesen, Vorlesungen hören usw.). Die Studierenden schreiben auf jedes Plakat die Sprachen, die sie für diese Tätigkeit nutzen. Die Plakate zeigen, welche Sprachen in der Gruppe wie stark vertreten sind und wie unterschiedlich die Studierenden sie in ihrem Leben (und Studium) einsetzen. Dieses Gruppenbild kann z. B. dafür verwendet werden, den Einsatz von Sprachen im Seminar zu besprechen.
Literatur
Brinkschulte, Melanie (2016): Mehrsprachigkeit als Ressource für akademisches Schreiben. In: Ballweg, Sandra (Hg.): Schreibberatung und Schreibtraining: Impulse aus Theorie, Empirie und Praxis. Frankfurt a. M: Peter Lang, S. 97-114.
García, Ofelia (2009): Education, Multilingualism and Translanguaging in the 21st Century. In: Mohanty, Ajit et al. (Hg.): Multilingual Education for Social Justice: Globalising the Local. New Delhi: Orient Blackswan, S. 128-145.
Knorr, Dagmar / Andresen, Melanie / Alagöz-Bakan, Özlem / Tilmans, Anna (2015): Mehrsprachigkeit - Ressource für SchreibberaterInnen und Ratsuchende. In: Dirim, ?nci / Gogolin, Ingrid / Knorr, Dagmar / Krüger-Potratz, Marianne / Lengyel, Drorit / Reich, Hans H. / Weiße, Wolfram (Hrsg.): Impulse für die Migrationsgesellschaft. Bildung, Politik und Religion. Münster. Waxmann.
Lahm, Swantje (2016): Schreiben in der Lehre. Opladen/Toronto: Barbara Budrich. (Kompetent lehren VIII).
Lange, Ulrike (2015): Mehrsprachige Wege zu einsprachigen Texten. In: ide 2015.4: Sprachliche Bildung im Kontext von Mehrsprachigkeit, S. 133-141.
Rico, Gabriele L. (2004): Garantiert schreiben lernen. Sprachliche Kreativität methodisch entwickeln. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.