Die Rolle des Lehrenden beim Forschenden Lernen
Im Rahmen universitärer Lehre wird zunehmend stärker das Ziel verfolgt, dass Studierende Lehrveranstaltungen als Ort forschenden Lernens erleben können. Diese Forderung steht in der Tradition des (hochschul-)didaktischen „Shift from teaching to learning“ und rückt damit den Fokus universitärer Lehre – entgegen des Campusjargons der „Lehrveranstaltung“ – auf das Lernen der Studierenden. Demzufolge erfordert eine Ausrichtung universitärer Lehre am Prinzip des Forschenden Lernens die gezielte Orientierung auf das Lernen der Studierenden. Über die genannte Lernorientierung hinaus muss es den Lehrenden zudem gelingen, eine forschungsorientierte Lernumgebung zu schaffen, die Studierende darin unterstützt, allein oder in der Gruppe selbstständig ein Forschungsprojekt durchzuführen. Zu dieser Gestaltungsleistung der Lehrenden gehört z.B. zu klären, wie studierendengerechte „Forschungsprojekte“ geplant, d.h. auch strukturiert, didaktisch aufbereitet und professionell begleitet werden müssen, damit Studierende dies zum effektiven Kompetenzerwerb nutzen können.
Der nachfolgende Beitrag thematisiert demzufolge zunächst allgemein, was die Lernorientierung in der Lehre für die Rolle von Dozentinnen und Dozenten bedeutet und dann konkret, was Lehrende bei der Planung und Gestaltung forschungsbezogener Lernumgebungen berücksichtigen sollten.
Vom Lehrenden zum Lernhelfer
Nehmen Lehrende den angesprochenen „Shift from Teaching to Learning“ ernst, so verlagert sich die Aktivität des Lehrenden deutlich von der Durchführungs- auf die Planungs- bzw. Vorbereitungsphase. Dies ermöglicht im Gegenzug in der Durchführungsphase eine Zunahme der Selbsttätigkeit der Studierenden und damit einen aktiven, anstelle eines rezeptiven, Lernprozess. Dieser Wandel bedeutet keineswegs eine geringere Bedeutung der Lehrerrolle bei der Durchführung von Lehre, er macht den Lehrenden zum Moderator, zum Lernhelfer oder Lernprozessbegleiter. In diesem Sinne übernimmt der/die Lehrende die Verantwortung für die Gestaltung einer Lernumwelt, die Studierende dazu befähigt, eigenständig (aber nicht alleine) und handlungsorientiert ein Forschungsprojekt entweder gänzlich oder in Ausschnitten zu planen, durchzuführen und auszuwerten und damit in authentischen wissenschaftlichen Kontexten zu lernen.
Forschendes Lernen erfordert eine gute Vorbereitung
Wenn es im Folgenden darum gehen soll, was Lehrende tun können, damit Studierende diesen Prozess erfolgreich nutzen können, stellen sich zunächst die Fragen, welche Phasen des Forschenden Lernens identifiziert werden können und welche Funktionen die Lehrenden in diesen übernehmen sollten. Dabei kann in Analogie zu den Arbeitsschritten von Forschungsprojekten von folgenden Phasen ausgegangen werden.
- Themenfindung / Kernfragestellungen entwickeln
- Formulierung von Fragestellungen und Forschungshypothesen
- Entwurf des Forschungsdesigns
- Durchführung
- Auswertung & Dokumentieren
- Ggfs. Anwendung
Mit Blick auf die Tätigkeit der Lehrperson ergeben sich in diesen Phasen konkrete Herausforderungen.
1. Themenfindung / Kernfragestellungen entwickeln
Wenn Forschendes Lernen zur individuellen Aktivierung der Studierenden beitragen soll, kommt der Themenfindung eine zentrale Rolle zu. Themen zu finden und Fragen zu entwickeln ist für Studierende oft viel schwieriger als sich Lehrende vorstellen. Lehrende und Studierende blicken in der Regel aus völlig unterschiedlichen Perspektiven auf dasselbe Thema; Lehrende weisen in der Regel sowohl einen strukturierten Überblick als auch Detailwissen auf, das es Ihnen problemlos ermöglicht, „Lücken“ im Thema oder im Forschungsstand zu entdecken. Studierende dagegen, müssen auf diese Lücken häufig in geeigneter Form aufmerksam gemacht werden. Dies kann durch direkte Impulse des Lehrenden, vor allem aber auch durch die aktive Auseinandersetzung mit vorbereitetem Material, wie z.B. Texten, authentischen Situationen und gute Aufgabenstellungen erfolgen. Im Sinne der Aktivierung erscheint es sinnvoll, dass Studierende die Möglichkeit erhalten, „ihr Thema“ selbst zu entdecken. Auch vorgegebene Themen sind denkbar, dann sollten die Studierenden allerdings die Gelegenheit erhalten, sich das Thema so „anzueignen“, dass sie für sich interessante Perspektiven auf das Thema entdecken und entwickeln können. Nur so können Studierende selbstständig Fragestellungen und Hypothesen generieren.
2. Formulierung von Fragestellungen und Forschungshypothesen
Wenngleich das Lernen durch eine hohe Selbstständigkeit gekennzeichnet sein sollte, erfordert die Entwicklung von Forschungshypothesen in der Regel eine recht enge Rückkopplung an einen Experten, der nicht notwendigerweise die Lehrperson sein muss. Mit Blick auf das gewählte Thema müssen Perspektiven geschärft und Fragstellungen konkretisiert werden, um schließlich Hypothesen zu generieren. Diese dosierte Reduktionsleistung erfordert eine gute Beratung.
3. Entwurf eines Forschungsdesigns
Die Entwicklung eines geeigneten Forschungsdesigns stellt eine enorme Herausforderung für Studierende dar, die häufig dadurch erschwert ist, dass Ihnen die Palette der Möglichkeiten nicht bekannt ist. Diese Schwäche kann auf sehr unterschiedlichen Wegen bearbeitet werden, z.B. durch das zur Verfügung stellen von Textmaterial (z.B. Forschungsmethodologische Handbücher, ausgewählte Fachaufsätze, in denen Studien ausgewertet werden, Antragsskizzen oder Projektposter). Zudem hat sich der Einsatz einer Expertenkommission als effektiv erwiesen, die analog zur Kultur der Wissenschaft in Form eines Kolloquiums gemeinsam beratschlagt und Vor- und Nachteile, sowie Möglichkeiten und Risiken kritisch diskutiert. Dieses Szenario lässt Studierende Forschung und Wissenschaft authentisch erfahren und nimmt Studierende in ihrer Rolle als kompetentes Gegenüber ernst. Demnach ist eine Expertenkommission, in der Studierende sich ggfs. auch zusammen mit weiteren Experten kollegial mit Forschungsdesigns auseinandersetzen, im Sinne der Selbstbestimmungstheorie nach Ryan & Deci eine geeignete Möglichkeit, die intrinsische Motivation der Studierenden zu unterstützen.
Nachdem die Studierenden ein Forschungsdesign entwickelt haben, steht die Planung der Durchführungsphase an. Für ein Experiment benötigen Studierende Materialien, bei Befragungen müssen Termine vereinbart werden, und ggfs. müssen Fragebögen gedruckt oder Aufnahmegeräte besorgt werden. Lehrende können in dieser Phase unterstützend (z.B. Kontaktpersonen benennen, Geräte zur Verfügung stellen) bereitstehen. Die Organisation einer Erhebung können Studierende in aller Regel selbstständig verantworten.
4. Durchführung
Die Durchführung sollte den Studierenden vorbehalten sein. Das selbstständige Handeln in eigener Verantwortung, das Eintauchen in das Praxisfeld (z.B. bei quantitativen oder qualitativen Befragungen) vermittelt den Studierenden im Sinne der oben angeführten Selbstbestimmungstheorie1 nach Ryan & Deci einen wichtigen Motivationsschub.
5. Auswertung und Dokumentieren
Wenn Studierende Auswertungen selbstständig übernehmen, sollten sich zunächst die Lehrenden ihre eigenen Erwartungen an gute Auswertungen vergegenwärtigen und diese mit realistischen Anforderungen an Studierende abgleichen. Nicht selten führen unreflektierte Maßstäbe von Seiten der Seminarleitung zu Frustrationen auf beiden Seiten. Daher sollten die Lehrenden die Anforderungen an die Auswertungsqualität transparent gestalten, damit Studierende genau wissen, was von ihnen erwartet wird. Das gilt vor allem auch für das Erstellen einer Forschungsdokumentation.
Zudem stellt das Angebot von Unterstützung eine wichtige Aufgabe dar. Dies kann beispielsweise durch Lernszenarios erfolgen, in denen Studierende Lern- bzw. Auswertungstandems bilden und sich bei Fragen und Unsicherheiten miteinander austauschen können.
6. Anwendung – Eintauchen in die Praxis – Betrachten der Relevanz der Ergebnisse für die Praxis
Nicht immer muss die Rückführung von Ergebnissen in die Praxis zum Forschungsprozess gehören. Für Studierende stellt diese Erfahrung einen wichtigen Schritt in Bezug auf ihr Verständnis von Wissenschaft dar, da es Ihnen so gelingt zu erkennen, was vielen Studierenden in der Universität fehlt: das Verständnis für das Verhältnis von Theorie und Praxis.
Was sagen Studierende?
„Ich wurde sehr gut auf dieses Forschende Lernen vorbereitet, weil wir in diesem Seminar nicht inhaltlich gearbeitet haben, aber diese verschiedenen Schritte des Forschungsprozesses, die wurden jeweils in einer eigenen Woche besprochen. Es ging in einer Woche um die Themenfindung. Dann hatte man ein bisschen Zeit, dann ging es in der nächsten Woche um Fragestellung ausbilden, dann um Hypothesen ausbilden, um das Planen einer Durchführung usw. und das wurde einfach in den verschiedenen Wochen sukzessive besprochen, sodass wir halt sehr gut auf das Ganze irgendwie vorbereitet wurden, sodass man auch nicht überfordert war.“ (2. Bachelorsemester Psychologie)
Zusammenfassung – Die 6 Kernaufgaben von Lehrenden beim Einsatz von Forschendem Lernen in der universitären Lehre
- Forschendes Lernen muss gelernt werden! Ohne eine entsprechende Vorbereitung der Studierenden auf die Herausforderungen des forschenden Lernens, steigt die Gefahr, dass Studierende an der Offenheit solcher Lernszenarien scheitern können.
- Studierende arbeiten selbstständig, brauchen aber in der Seminarleitung eine zuverlässige Beratungsinstanz. Zeigen Sie den Studierenden also, dass Sie als Lernhelfer bereitstehen.
- Gestalten Sie die Aufgabenstellung(en) klar und präzise und machen Sie ihre Anforderungen transparent.
- Strukturierung dient als „Gehhilfe“ im Arbeits- und Lernprozess, die umso wichtiger ist, je weniger die Studierenden gewohnt sind, forschend zu lernen. Strukturierung kann z.B. durch unterschiedlich stark gegliederte bzw. auch sequenzierte Aufgaben, durch regelmäßige Rückkopplungen mit der Seminarleitung und/oder mit Kommilitonen bzw. Lernpartnern – durch das Ausmaß, mit dem die Seminarleitung Ressourcen, Materialien, Hilfestellungen bereitstellen, erreicht werden.
- Ermöglichen Sie Ihren Studierenden Kooperationsmöglichkeiten entweder durch die Bearbeitung von Forschungsprojekten im Team oder die Möglichkeit, mit Experten aus der Praxis zusammenzuarbeiten. Die soziale Einbindung in eine Expertenkultur fördert die intrinsische Motivation der Studierenden.
- Lassen Sie die Studierenden in die Praxis eintauchen und so den Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis erleben.
- Durch das eigene Kompetenzerleben, das autonome Handeln sowie durch die soziale Eingebundenheit werden drei zentrale Grundbedürfnisse des Menschen bedient, die eine höhere innere Motivation zur Folge haben, Tätigkeiten erfolgreich durchzuführen.